Nowruz in Usbekistan

Besser ein schlechter Reiter auf einem guten Pferd, als ein guter Reiter auf einem schlechten Pferd.” (usbekisches Sprichwort)

Wir rennen wie die Hasen. Die anderen auch. Manche eilen etwas würdevoller – oder sie versuchen zumindest, es würdevoll aussehen zu lassen – aber die meisten sprinten wild los. Wohin überhaupt? Das ist nicht ganz klar. Die mit sprießendem, grünem Gras bewachsene Hügelkuppe ist einige Fußballfelder groß, und wir könnten ohne Hindernis bis zu den schneebedeckten Häuptern des Hissar-Gebirges im Norden rennen. Oder hinunter zum eiskalten Bach im Süden, an dessen Ufern etliche kleine Autos müßig auf die Rückkehr ihrer Besitzer warten..

Aber die Pferde kommen im gestreckten Galopp von allen Seiten, ändern plötzlich ihre Richtung, stoppen unvermittelt, und bilden einen wilden Pulk. Wohin also? Doch lieber stehen bleiben und die wogenden, muskulösen Leiber der zähen kleinen Tiere bestaunen? Wellen gleich tauchen einzelne Pferdeköpfe mitsamt dem Vorderleib und wild schlagenden Hufen aus dem Wust auf, mit rollenden Augen und aufgerissenem Maul. Einzelne Reiter umkreisen den Pulk, stoßen unvermittelt in die Menge hinein, und verschwinden. Staub verhüllt die Horde, steigt dann empor, und der kühle Wind bläst ihn in alle Richtungen davon.

Plötzlich bricht einer der Reiter aus. Halb hängt er auf der einen Seite am Pferd herab, schleift einen wolligen Körper mit sich. Wie kann man sich in einer solchen Position überhaupt auf einem Pferd halten? In rasendem Galopp versucht er, seine Beute in Sicherheit zu bringen. Aber dicht verfolgt von der Meute schafft er nur ein paar Dutzend Meter, dann haben ihn die anderen eingeholt. Das Gerangel geht von neuem los. Nicht umsonst tragen die meisten Reiter dick gepolsterte Ledermützen, die an Fliegerkappen erinnern, dazu schwere Lederstiefel und eine kurzstielige Peitsche. Sie kämpfen um einen Schafsbalg, der so viel wie ein ausgewachsener Mann wiegt. Jeder gegen jeden. Alles ist erlaubt, auch Ziehen und Zerren, Hauen und Drücken. Jeder will den Balg erbeuten. Das ist nicht einfach. Denn der wiegt nicht nur schwer, sondern muss vom Boden aufgenommen werden. Inmitten einer Horde von mindestens fünfzig Pferden, die keinerlei Angst zeigen, sondern mit ihren Reitern um die besten Plätze kämpfen.

Ist der Balg erbeutet, gilt es aus dem Pulk auszubrechen, und eine Runde um den – allerdings nicht wirklich definierten – Spielplatz herum zu reiten, ohne sich den Balg dabei abjagen zu lassen. Das Ziel ist nur durch zwei schwankende, mannshohe Stöcke markiert. Dabei hängt der Reiter schwer an der Seite seines Reittieres, muss gleichzeitig die Verfolger im Blick behalten, dem Pferd die Richtung vorgeben, den Schafskadaver mit sich zerren und sich irgendwie oben auf dem schwankenden Rücken halten.

Kein Wunder, dass die vielen – ausschließlich männlichen – Zuschauer, die sich auf der Hügelkuppe die besten Plätze gesichert haben, auseinanderstieben wie die Hasen, wenn die Rotte auf sie zuhält. Denn eine Zuschauertribüne gibt es nicht; die Zuschauer werden so unversehens Teil des Spektakels. Sicherheitshalber versuche ich Muri hinter meinem Rücken zu verstecken und halte ihn am Ärmel, während ich – vollkommen fasziniert von der Szenerie – mit der einen Hand immer noch Fotos mache, dann aber auch Fersengeld gebe. Sharifah sitzt derweil auf den Schultern unseres Fahrers und Driverguides Sulayman und kommt ebenfalls in den Genuss, im Galopp über die Wiese getragen zu werden. Kupkari nennen die Usbeken ihren Nationalsport, Buzkashi heißt er anderswo in Zentralasien.

Wir sind im Hissar-Gebirge, im südlichen Usbekistan, unterwegs und erkunden neue Wander- und Reiserouten.

Noch ist es nachts sehr kalt, und auch tagsüber haben wir wegen des Windes oft unsere Jacken an. Aber der Frühling ist immerhin hier schon weiter, als zu Hause in Gerolstein. Dünne, frische Grashalme überziehen die Abhänge und Kuppen des Graslandes, und allerorten blühen winzige Blumen. Die Häupter der Berge und die Schluchten an ihren Flanken sind noch schneebedeckt, aber die Sonne ist mittags immerhin so heiß, dass wir im T-Shirt herumlaufen und aufpassen müssen, uns keinen Sonnenbrand zu holen. Es ist Ende März; wir sind zur Zeit des Nowruz hierhergekommen.

Das Fest zum Frühjahrsbeginn wird in allen Ländern Zentralasiens gefeiert. Hier in Usbekistan gehören Dorffeste dazu. Es wird getanzt und musiziert, gemeinsam gekocht und gegessen, und es werden Wettbewerbe veranstaltet. Bei manchen geht es sehr gesittet zu.

Wenige Tage zuvor waren wir im Nurata-Gebirge spontan zu einem Theaterwettstreit eingeladen worden.

Die einzelnen Machallas dieser Gegend – Machallas sind Dorfgemeinden, die eine eigene Verwaltung haben – hatten für das gemeinschaftliche Fest zum Nowruz jeweils eine Hochzeitsfeier inszeniert, die von einem auf Decken sitzenden und Kürbiskerne kauenden Publikum und einer Jury hinter einem langen Konferenztisch unter dem wolkigen Himmel kritisch begutachtet wurde.

Während sich bei der einen Darbietung ein winziger Esel vor baldachingeschmücktem Karren durch die Arena mühte, fuhr das Hochzeitspaar einer anderen Machalla im schnittigen, bändergeschmückten Chevrolet ein. Unser kenntnisreicher Gastgeber erklärte uns die Sitten und Regeln des Wettstreits in einem gepflegten und nahezu fließenden Deutsch. Dabei hatte er – wie er verlegen gestand – Deutschland nie kennen gelernt, sondern die Sprache an der Uni in Samarkand studiert. Vor und nach den einzelnen Inszenierungen wurde der Festplatz ohrenbetäubend und etwas scheppernd mit riesigen Boxen beschallt. Insbesondere die gestandenen Familienmütter nutzten die Gelegenheit zu ausgelassenen Tänzen.

Viel aufregender für uns – besonders für Muri – war da der Ringerwettbewerb, den wir am Tag des Kupkari auch noch erleben durften. “Belbogi kurash“ nennen die Usbeken ihren zweiten Nationalsport, und schon die Jüngsten können sich miteinander messen.

   

Gekleidet sind sie in die weißen Jacken und Hosen der Judokas – so vorhanden. Ansonsten reichten auch bunte Shirts und Bermudas. Gegürtet mit einem Strick, treten immer etwa gleich starke und alte Jungen und Männer in Paaren gegeneinander an.

Den Überblick wahrt ein ehrenwerter Richter,

dessen Multi-Tasking-Fähigkeiten mich stark beeindrucken. Denn er behält im Schnitt vier, in unterschiedlichen Klassen gegeneinander antretende Paare gleichzeitig im Auge, schlichtet Streits und bestimmt neue Gegner für die Gewinner. Die Verlierer scheiden aus.

Rundum stehen und hocken dicht gedrängt die Männer und fachsimpeln. Etwas weiter entfernt auf den erhöhten Sitzplätzen am Rand der Senke glucksen und kichern ganze Mädchentrauben, und gerahmt wird die Szenerie von Müttern in bunten, wogenden Röcken. Es herrscht Jahrmarktstimmung! Kleinkinder mit wollenen Mützen wuseln um die Gruppen der Sitzenden herum. Es wird gelacht und getratscht, gekaut und geklatscht. Rufe schallen hin- und herüber, und kaum lassen wir uns auf einem freien Plätzchen direkt oberhalb des Baches nieder, werden wir zu Tee und Gebäck eingeladen, und bekommen ein Schüsselchen Sumalak geschenkt.

Sumalak – auch das gibt’s nur zum Nowruz.

Eine rotbraune Masse, von zäher Konsistenz. Sie erinnert ein bisschen an Pflümli, an Pflaumenmus: ähnlich pastos, und etwas süß. Zur Herstellung lässt man Weizenkörner tagelang keimen und kocht sie dann – traditionellerweise über Nacht – zu einem Brei. Die Prozedur des Kochens wird begleitet von Gebeten und Gesängen, von gegenseitigen Besuchen und Tanz, vor allem aber mit guten Wünschen all derjenigen, die vorbeikommen, mithelfen und mitfeiern.

Wir bekommen das Sumalak zu allen möglichen Gelegenheiten serviert. Denn eine meiner Aufgaben während unserer Reise in Usbekistan und Turkmenistan ist es, die vielen Privatpensionen in den Gebirgsregionen Usbekistans zu besuchen. Dieseeinfachen Unterkünfte werden liebevoll von den Frauen gemanagt, und wirklich jedes Mal werden wir auf einen grünen Tee und zum Kosten des Sumalak eingeladen.

Jetzt, auf der Wiese sitzend, landen nacheinander das Sumalak, das zugehörige Brot, Kamellen (kölsch für Bonbons) in buntem Wickelpapier, Tee mit den zugehörigen Schälchen und wenig später sogar eine Platte mit Plov auf unserer Decke. Immer begleitet von den besten Wünschen zum Frühjahrsbeginn, und mit erstaunt-freudigen Ausrufen, wenn die Frauen erfahren, dass Sharifah eben Sharifah heißt. Der eigentlich arabische Name ist in Usbekistan relativ häufig, und die sowieso äußerst kinderlieben Usbeken sind ganz aus dem Häuschen, dass jemand aus dem Ausland so heißt, wie sie.

Wir genießen derweil den Plov, dessen Zubereitung in einem riesigen Kessel wir aus nächster Nähe haben beobachten können. Plov, schon wieder so eine nationale Angelegenheit. Bestehend aus Reis, der auf einem Bett aus Fleisch – zumeist Schaf – und Gemüse gedünstet wird. Dabei kann aufs Gemüse ganz verzichtet werden, keinesfalls aber auf das Fleisch und vor allem das Fett, welches die Reiskörner glasig umhüllt und dem Gericht den Geschmack verleiht. Jede usbekische Familie schwört im Übrigen auf ihr Rezept, und in jeder Stadt und an jedem Ort haben wir selbstredend das einzig originale und bestschmeckende Plov gegessen. Muri – bestimmt kein Vegetarier – versicherte mir bei unserem Rückflug glaubhaft, dass er in den ersten drei Wochen nach unserer Rückkehr kein Fleisch mehr essen werde. Ganz hat er sich nicht dran gehalten, aber für ernsthafte Vegetarier stellt eine Reise in Usbekistan eine gewisse Herausforderung dar!

Aber noch sind wir erst eine Woche im Land unterwegs, und freuen uns jeden Tag wieder auf neue Landschaften, grandiose Bauten (davon im nächsten Newsletter mehr) und vor allem die Bekanntschaft von liebenswerten Menschen. In Samarkand und Bukhara, in der Wüste Karakum und in Khiva, das wir ganz zum Schluss der drei Wochen besuchen.

Wir reisen nur zu dritt, mit wechselnden Begleitern, in PKW’s und im Geländewagen, über die Grenzen auch zu Fuß, mit all unserem Gepäck. Immerhin 40 Kilo, die wir auf eine Alukiste und eine Reisetasche mit Rollen verteilt haben. Wir schlafen in UdSSR-zeitlichen Hotelklötzen und kleinen Pensionen, in der Wüste in unseren Schlafsäcken im Zelt. Immer werden wir zuvorkommend behandelt, auch von den Grenzern. Wir fühlen uns rundum sicher, rundum aufgehoben.

Muri, Sharifah und ich haben jede Menge neue Freunde gewonnen, und ich habe jede Menge neuer Reiseideen mitgebracht.

Fest vorgenommen haben wir uns, im kommenden Frühjahr zum Nowruz wieder nach Usbekistan oder in eines der Nachbarländer zu reisen. Zu der Zeit sind noch wenig Touristen unterwegs, und gerade in den Bergregionen bei Nurata und im Süden, bei Boysun im Hissar-Gebirge, sind die althergebrachten Traditionen ganz besonders lebendig.

Written by Julietta Baums