Interview: Corona in Marokko

Heute stellen wir in unserem Partner-Interview Haddou aus Marokko vor: Wie hat sich der Alltag für unseren Partner Haddou zu Zeiten von „Corona in Marokko“ verändert?

Unseren Agenturpartner Haddou kenne ich schon seit Mitte der 1990’er Jahre. Damals hatte ich einen Toyota Landcruiser FJ62 gekauft, mit dem ich mitten im Sommer hinunter nach Mali gefahren bin, um den Wagen dort für unsere Reisen einzusetzen. Haddou hat uns im Süden Marokkos begleitet, denn auch dort wollten wir neue Routen auskundschaften. Im kommenden Jahr habe ich für sein Visum gebürgt, damit er in Deutschland die deutsche Sprache lernen konnte. Während seiner Zeit bei uns hat er seine heutige Frau kennen gelernt. Zusammen haben sie inzwischen den Campus vivant’e aufgebaut, ein sehr erfolgreiches soziales Projekt im Hohen Atlas, das wir unten auch kurz vorstellen.

Hallo Haddou. Beschreib doch mal einen normalen Tagesablauf für Dich. Vermutlich ist das Leben mit Corona in Marokko momentan deutlich anders als sonst?

Bei uns im Hohen Atlas, genauer im Tal Ait Bougumez, auf mehr als 1.900 Metern Höhe, hat der Sommer begonnen und somit die Jahreszeit der Landwirtschaft. Wir kümmern uns aktuell vor allem um den Garten und die Permakultur-Anlage unseres Projekts. Hier pflegen wir unsere zahlreichen Obstbäume, bauen Gemüse an und versorgen über 20 Hühner. Normalerweise machen die Schüler davon einige der Arbeiten, jetzt müssen wir alles selbst erledigen. Außerdem haben wir ja noch unsere eigenen fünf Kinder im Alter zwischen 2 und 16 Jahren. Aktuell sind alle zuhause, die Großen müssen Homeschooling machen . Es fehlt uns also nicht an Arbeit und Aufgaben … und nun ist auch die Jahreszeit, um ein paar Baumaßnahmen und Instandsetzungen rund um das Haus durchzuführen. Vieles bei uns ist ja in alter Lehmbautechnik errichtet, da ist der Sommer stets die Jahreszeit, in der Schäden aus dem Winterhalbjahr beseitigt werden.

Reisetipp
Die Aussicht vom Ighil M’Goun ist schier grenzenlos. Bei gutem Wetter schweift der Blick von den Gipfeln des Hohen Atlas über jene des Anti-Atlas bis zum Jebel Sarho und hinab zum grün schimmernden Grund des Oued Dades. Das ist die Heimat der Imazighen, der „freien Menschen“, wie sich die Berber voller Stolz selbst nennen. Wer diese Welt erkunden will, tut dies am besten wie wir: zu Fuß, mit viel Zeit und einer Maultierkarawane für das Gepäck. Weitere Informationen zur Reise finden Sie hier.

Wie gehst Du denn momentan einkaufen? Sind Geschäfte und Supermärkte geöffnet und gibt es besondere Regeln beim Betreten?

Wir leben in einem Tal in den Bergen des Zentralatlas im Tal der Bouguemez, das etwa 14000 Einwohner hat, die in 24 Dörfern leben. Es gibt hier keine Supermärkte, es gibt nur einen wöchentlichen Markt/Souk jeden Sonntag, aber zwischen dem 20. März 2020 und 10. Juni 2020 fand der Souk nicht statt. Während dieser ganzen Zeit gab es nur ein paar Shops, die von 08:00 Uhr morgens bis 18:00 Uhr abends geöffnet waren. Man konnte nur mit Mundschutz und Bewilligung der Kommune raus und einkaufen gehen. Wir haben oft unseren Lebensmittelhändler angerufen. Er hat uns die Dinge dann nach Hause geliefert. Fast in jedem Dorf gibt es auch einen Lebensmittelladen und kleinen Krämer, wo man die wichtigsten Dinge kaufen kann.

Wie funktioniert aktuell der öffentliche Nahverkehr? Dürfen Taxis fahren?

Der öffentliche Verkehr war vom 20. März bis zum 10. Juni verboten. Seither gilt es eine abgestufte Regelung nach Zonen. Ab dem 10. Juni begann der freie Verkehr in der Zone 1 wieder, dort sind die ländlichen Gegenden und Kleinstädte zusammengefasst. In der Zone 2, also den Großstädten und Corona-Gefahren-Gebieten, ist noch bis zum 10. Juli 2020 Lockdown.  Taxis waren seit dem 20. März 2020 verboten, seit 10. Juni beginnt das Taxigeschäft in den Zonen 1 allmählich wieder, aber Fahrten sind nur mit der halben Besetzung gestattet.

Sind Restaurants geöffnet? Wie ist mit Museen, Kinos oder Cafes? Gibt es dafür spezielle Bestimmungen, oder darf alles ganz normal geöffnet werden?

In Marokko waren alle Restaurants vom 20. März bis 10. Juni geschlossen. In den Zonen 1 sind Restaurants nur für Haus-Lieferungen wieder geöffnet und es ist noch verboten, in einem Café oder Restaurant zu sitzen. Alle Museen, Kinos und Cafes sind seit dem 20. März geschlossen, seit 10. Juni begann die Wiedereröffnung in den ländlichen Gebieten. Die Eröffnung der Cafés beginnt mit Heimlieferservice, ab 25. Juni sollen auch Cafés, Restaurants und öffentliche Gärten wieder zugänglich sein. Museen, Kinos und alle anderen Orte des gesellschaftlichen Lebens sollen ab 10 Juli wieder öffnen, aber unter der Bedingung, dass sie sich auf die Hälfte der Kapazität der Einrichtungen beschränken, und die vom Gesundheitsministerium festgelegten Sicherheitsmaßnahmen einhalten. Bei uns im Tal gibt es aber außer Cafés keine solchen Einrichtungen, keine Museen und keine Kinos …

Darf man zwischen verschiedenen Städten reisen? Und nehmen Hotels überhaupt Gäste auf?

Seit dem 20. März war alles zu, kein Verkehr zwischen den Städten und fast alle Hotels geschlossen. Seit 10. Juni sind Verkehr und Reisen in bestimmten Gebieten wieder erlaubt. Auch die Hotels bereiten sich auf die Eröffnung ab 25. Juni vor, wobei auch Sicherheitsmaßnahmen vom Gesundheitsministerium und vom Tourismus-Ministerium getroffen werden.

Unser Familien Reisetipp
Familienreise auf den Spuren des kleinen Prinzen: der kleine Prinz ist ein Sternenwanderer. Irgendwann verschlägt es ihn in die Wüste Sahara. Dort trifft er auf Antoine de Saint-Exupéry, einen abgestürzten Piloten, der über seine Begegnung mit dem kleinen Prinzen später ein berühmtes Büchlein geschrieben hat. Darin schildert er seinen kleinen Freund als jemanden, der sehr neugierig ist und viele Fragen stellt. Auf dieser Familienreise wollen wir genauso neugierig sein und genauso viele Fragen stellen wie der kleine Prinz. Denn die Wüste steckt voller Überraschungen. Und erst das Kameltrekking! Weitere Informationen zur Reise finden Sie hier.

Wie arbeiten die Leute denn momentan? Ist Home-Office möglich und verbreitet?

Viele Menschen arbeiten von zu Hause aus, wenn es um Dienstleistung im digitalen Bereich und um Büroangestellte geht, aber viele arbeiten nicht und haben keinen Büro- oder PC-Beruf. Sie sind gezwungen, zu Hause zu bleiben und verdienen aktuell kein Geld. Darunter sind natürlich all jene, die im Tourismus arbeiten (Reisebüros, Fremdenführer, Hotels, Cafés, Restaurants), aber auch Handwerker, Dienstleister im Transportgewerbe, Bauarbeiter und so weiter.

Wie ist die Situation in Eurem Projekt, also im campus vivant’e? Itto, kannst Du als Gründerin uns schildern, wie es aussieht?

Von Mitte März bis einschließlich 10. Juni waren ja auch alle Schulen, also auch unsere Schule, im Lockdown. Stille und Stillstand total.  Das aktuelle Schuljahr wurde inzwischen offiziell als abgeschlossen erklärt, für die Versetzungen wird man sich auf die Halbjahresnoten vom Januar berufen. Der offizielle Schulbetrieb soll erst im September mit Beginn des neuen Schuljahres losgehen.  Natürlich sind deshalb auch seit Mitte März all unsere Schüler und Lehrer jeweils bei sich zuhause und sind es nach wie vor. In dieser gesamten Zeit waren wir vor allem über Whatsapp miteinander in Kontakt.

Da diese ganze Schließung sehr überraschend gekommen ist und wir uns in gar keiner Weise darauf vorbereiten und absprechen konnten, war auch die Fern-Begleitung etwas ganz Neues und nur teilweise möglich. Smartphone-Nutzung ist für die meisten Menschen hier oben in den Bergen immer noch ein unbekanntes Gebiet. Viele Eltern haben noch gar kein Mobiltelefon, geschweige denn einen PCs oder Internetzugang zuhause. Viele Eltern sind ja Analphabeten und daher war deren Hilfe im Homeschooling oder Kontakt-halten über e-Messages schier unmöglich.

Hier hat sich wieder einmal die große soziale Bandbreite und Heterogenität unserer Schüler- und Elternschaft gezeigt: Viel mehr noch als in den Städten herrscht in diesen abgelegenen Hochgebirgsregionen eine Ungleichheit, die wir zwar als Schule im normalen Unterrichtsbetrieb meist recht gut ausbalancieren können, die aber in solchen extrem-Situationen, wo Lernbegleitung komplett in Elternhand liegt, nur wenig ausgeglichen werden kann.

Campus vivant'e
Der campus vivant’e befindet sich im Hohen Atlas Marokkos, in einem abgelegenen Hochtal auf 1800 m Höhe, mitten im ursprünglichen, rauen Gebirge. Die Vorschule maternelle vivante, die Grundschule école vivante und die Sekundarschule collège vivant’e ermöglichen rund 80 Kindern und Jugendlichen, meist Berbern aus allen sozialen Schichten, eine ganzheitliche, zukunftsweisende Bildung in ihrer abgelegenen Heimat.

Gruppenbild vor dem Campus (vor Corona)

Das marokkanische Bildungsministerium hat auf die unerwartete Situation sehr schnell und gut reagiert und umfassende Fernsehprogramme und auch Unterrichts-online-Programme angeboten, wovon ein paar Schüler sicher profitieren konnten und teils immer noch tun, darunter vor allem die Schüler der Prüfungsklassen (6. und 9. Klasse). Auch die Lehrer konnten von den dort abgehaltenen Unterrichtseinheiten profitieren und sich neue Inspiration und Ideen in der Stoff-Vermittlung holen. Die Prüfungsklassen wurden auch von unserem Lehrer-Team in Whatsapp-Gruppen begleitet und aus der Ferne betreut, was in den meisten Fällen sehr gut funktioniert hat. Die Lehrer haben Aufgaben gestellt und evaluiert, und vereinzelt sogar per Videos und Sprachnachricten Unterrichtseinheiten geboten. Wie und ob diese Schüler dann im Herbst Prüfungen machen müssen oder direkt in die nächste Schulstufe übertreten können, ist noch offen und wir schauen nun, wie wir die Transition gut miteinander hinbekommen.

Seit 11. Juni dürfen wir uns als Lehrerteam wieder offiziell treffen, allerdings nach wie vor nur auf freiwilliger Basis und unter Gesundheitsschutzauflagen.
Mit dem Leaderteam des campus vivant’e sind wir aktuell damit beschäftigt, das Schuljahr offiziell abzuschließen. Wir kümmern uns also um Notenerfassung, Papiere und Administrationsarbeit. Mit dem kompletten Lehrerteam arbeiten wir momentan die Pläne für das kommende Schuljahr aus.

Hierbei hat vor allem die Reflektion der letzten Monate und die Frage zu unserer Rolle als Bildungseinrichtung großes Gewicht: Wie war die Zeit des Shutdowns? Was konnten wir daraus lernen und vor allem, was müssen wir noch lernen? Was haben wir verpasst und wie müssen wir uns auf ein eventuelles nächstes Mal besser vorbereiten (auch Eltern und Schüler)? Was bedeutet diese gesellschaftliche und weltweite Entwicklung für Schulen, Lehrplan und unseren Bildungsauftrag allgemein? Wie können wir unsere Schüler mit den vielen verschiedenen sozialen Hintergründen wieder zusammenbringen, dort abholen wo jeder Einzelne steht und wie ermöglichen wir Chancengleichheit?

Viele, viele Fragen beschäftigen uns, und wir sehen dies als Chance und Pflicht, aus dieser speziellen Zeit zu wachsen und Dinge auch neu zu definieren. Nach und nach werden auch die Erfahrungen der Eltern und Schüler mit in unsere Überlegungen einfließen.

Finanziell gesehen geht es den Familien hier im Tal aktuell nicht schlechter als sonst: Auch hier hat der Staat wirklich vorbildlich reagiert und gewährt allen Familien ohne Arbeitsvertrag oder Sozialversicherung (also allen Tagelöhnern, Bauern, einfachen Arbeitern, Arbeitslosen, Witwen,…) ein kleines monatliches Hilfsgeld und teilweise auch materielle Verpflegung, was ihren Lebensunterhalt sichert und ihnen Sorgen nimmt.

Unser eigenes Team konnte Dank der Spendengelder und der Unterstützung unserer treuen europäischen Partner und Freundeskreise seinen Lohn weiterhin beziehen und somit hat der campus vivant’e hier eine wichtige Rolle als sorgender Arbeitgeber weiterhin ausführen und die Existenz von über 20 Angestellten und ihrer gesamten Großfamilien sichern können. Dafür sind wir sehr dankbar!

Die Permakultur-Landwirtschaft auf dem Campus hat die Auszeit sichtlich genossen. Pflanzen und Bäume konnten sich erholen und Dank des kühlen, teils feuchten Wetters und unserer Pflege auch gut wachsen. Nun kommt der Sommer und es wird merklich heißer.

Ab dem 02. September soll es planmäßig mit dem neuen Schuljahr auf „normale Art“ wieder mit den Schülern im Unterrichtsbetrieb losgehen. Wir müssen bei all dem aber weiterhin offen und flexibel bleiben, da niemand wirklich sagen kann, wie sich die Dinge allgemein entwickeln.

Dank und Informationen
Vielen Dank an Haddou und Itto für diesen Bericht aus Marokko. Wir hoffen bereits jetzt im Sommer wieder Reisen nach Marokko durchführen zu können. Bei Interesse am Projekt von Haddou und Itto oder an unseren Marokko-Reisen erreichen Sie uns wie gewohnt unter info@nomad-reisen.de und telefonisch unter +49-6553-83297-0.
Written by Julietta Baums